Forum: Corona-Lektüre - Beate Althammer über Erwin H. Ackerknecht

Von
Beate Althammer, IGK Work and Human Lifecycle in Global History, Humboldt-Universität zu Berlin

Erwin H. Ackerknecht, Anticontagionism between 1821 and 1867, in: Bulletin of the History of Medicine 22 (1948), S. 562–593.

Schützen Mobilitätsbeschränkungen vor tödlichen Seuchen oder produzieren sie nur fatale Nebenwirkungen, ohne ihren Zweck erreichen zu können? Um diese in Zeiten von Corona wieder hochaktuelle Frage tobte im 19. Jahrhundert ein Wissenschaftsstreit, der vor allem angesichts der großen Cholerapandemien hohe Wellen schlug, sich aber bereits zuvor am Gelbfieber entzündet hatte und auch auf die Deutung anderer epidemischer Krankheiten wie Pest und Fleckfieber abfärbte. Während die „Kontagionisten“ von der Übertragung eines Krankheitsstoffs von Mensch zu Mensch oder über Gegenstände ausgingen und in frühneuzeitlicher Tradition strikte Absperrungen und Quarantänen empfahlen, verneinten die „Antikontagionisten“ eine direkte Ansteckungsgefahr und verurteilten solche Zwangsmaßnahmen als ebenso nutzlos wie despotisch. Unter Antikontagionisten galten gemeinhin giftige Fäulnisgase, sogenannte Miasmen, als Auslöser von Epidemien; manche glaubten an widrige tellurische Einflüsse und anderes mehr. Nach heutigem Wissensstand lagen sie falsch – falscher als die Kontagionisten. Dennoch errang der Antikontagionismus im frühen 19. Jahrhundert eine erstaunliche Überzeugungskraft. In der medizinischen Fachwelt avancierte er zur dominanten Lehrmeinung und fast überall zog die staatliche Seuchenbekämpfungspolitik mehr oder weniger dezidiert nach.

In seinem einflussreichen Aufsatz aus dem Jahr 1948 hat Erwin H. Ackerknecht diesen epidemiologischen Streit meisterlich geschildert und danach gefragt, wie der merkwürdige Höhenflug einer irrigen Theorie ausgerechnet am Vorabend der bakteriologischen Revolution zu erklären sei. Seine Antwort hat den Text zu einem Klassiker der neueren, sozial- und kulturhistorisch orientierten Medizingeschichtsschreibung gemacht. Die Dynamik der antikontagionistischen Bewegung, so Ackerknecht, sei nicht zu verstehen ohne den Aufstieg des Liberalismus zur übergreifenden gesellschaftlichen Leitideologie. In der zeitgenössischen Debatte erschien der Kontagionismus als assoziiert mit den alten autokratisch-bürokratischen Mächten, die Antikontagionisten hingegen präsentierten sich als Verfechter von Freiheit und Fortschritt. Sie machten sich indes nicht zu bloßen Dienern kommerzieller Interessen, warben vielmehr für kostspielige sanitäre Reformen, was zu ihrem bleibenden Vermächtnis wurde, obwohl sie mit den Miasmen einen imaginären Übeltäter ins Visier nahmen. Die medizinische Fachwelt mühte sich redlich um das vermutlich Richtige, wie Ackerknecht betont, entkam aber nicht dem Dilemma, dass keine der propagierten Strategien eindeutige Erfolge bei der Seucheneindämmung zeitigte. Nach der Jahrhundertmitte begannen denn auch Zweifel am reinen Antikontagionismus zu wachsen: Das war nicht die Konsequenz aus neuen bakteriologischen Erkenntnissen, sondern deren Voraussetzung.

Ackerknechts Aufsatz ist ein Grundlagentext der neueren Medizinhistoriographie, der innovative Perspektiven auf die Kontextbedingtheit wissenschaftlicher Paradigmenwechsel eröffnet hat. Zahlreiche einschlägige Werke haben sein Argument seither kritisiert, differenziert, zugespitzt, verzerrt oder verworfen, aber alle hat er inspiriert. Eine Re-Lektüre des Originals lohnt heute, wo wir wieder vor einem dramatischen Seuchendilemma stehen, mehr denn je, nicht zuletzt wegen Ackerknechts abschließender Warnung vor Überheblichkeitsgefühlen gegenüber den epidemiologischen Irrungen früherer Epochen.

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